PRESSEDOSSIER ZUR ERSATZFREIHEITSSTRAFE ABSCHAFFEN! KUNDGEBUNG | JVA PLÖTZENSEE | 31 MAI 10:00

Das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe umfasst: AG Straße Linke Neukölln | Berlin Obdachlosenhilfe, e.V. | #BVGWeilWirUnsFürchten | Entknastung - Naturfreundejugend Berlin | EXIT-EnterLife e.V. | #freiheitsfonds | GG/BO | Ihr Seid Keine Sicherheit | Justice Collective | Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. | Tatort Zukunft | + mehr

Sehr geehrte Vertreter:innen der Presse,

das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe wird am 31. Mai 2022 ab 10:00 Uhr eine Kundgebung vor dem Hauptportal der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, Friedrich-Olbricht-Damm 16 in 13627 Berlin abhalten.

Mit dieser Aktion möchten wir uns mit jenen Menschen solidarisieren, denen ab 1. Juni 2022 in dieser Stadt wieder Haft droht, weil sie zu arm sind, um ihre Geldstrafen zu zahlen. Dieses Datum markiert das Ende der Pandemie bedingten Aussetzung für Ersatzfreiheitsstrafen des Landes Berlin.

Des Weiteren werden Teile unseres Bündnisses am 01. Juni 2022 nach Hohenschwangau reisen, dort beginnt die Justizministerkonferenz der Länder. Ziel ist die Petitions-Übergabe „Kein Gefängnis mehr für Fahren ohne Fahrschein“ des #freiheitsfonds, die mittlerweile mehr als 70.000 Unterschriften trägt, an Bundesjustizminister Marco Buschmann.

Zum Hintergrund:

Bis zum 31. Mai war die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen in Berlin auf Grund der COVID-19-Pandemie ausgesetzt. Die Landesregierung entschied sich für diesen Weg, da die gesundheitlichen Risiken der Inhaftierung während einer Pandemie erkannt wurden. Die Berliner Regierung war auch bereit, auf die Inhaftierung von Menschen wegen unbezahlter Geldstrafen zu verzichten, weil sie wusste, was die Umstände der Pandemie bewiesen:

Unsere Gesellschaft brauchte zu der Zeit kein Gefängnis und das braucht sie auch jetzt nicht.

Es ist dringend geboten zu handeln, denn der Krieg in der Ukraine, steigende Lebenshaltungskosten und drohende Inflation werden in Deutschland kurzfristig und unweigerlich zu einer Armutsverschärfung führen. In Konsequenz droht ein dramatischer Anstieg auch bei Ersatzfreiheitsstrafen und der damit verbundenen Inhaftierungsrate, denn diese Form der Bestrafung trifft heute mehrheitlich Menschen am unteren sozioökonomischen Rand der Gesellschaft.

Die Ersatzfreiheitsstrafe war schon immer ungerecht und unmenschlich. Die schwerwiegenden Folgen der Ersatzfreiheitsstrafe treffen nur Menschen, die es sich nicht leisten können, die ihnen auferlegten Geldstrafen zu zahlen. Jene, die oft wegen ihrer Armut überhaupt erst kriminalisiert werden.

Unser Strafsystem ist auf der Bestrafung und Verfestigung von Armut aufgebaut. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist mittlerweile der häufigste Grund, warum Menschen in Deutschland in Haft kommen. Auf Bagatelldiebstahl entfallen etwa 60.000 dieser Fälle pro Jahr, auf das Nichtbezahlen eines Fahrscheins weitere 40.000 und auf niedrigschwelligen Betrug (wie Sozialhilfebetrug) weitere Zehntausende. Unsere Gesellschaft bestraft Drogenkonsum, statt für Fürsorge zu leisten und das Fahren ohne gültigen Fahrschein, anstatt Mobilität für alle zu ermöglichen.

Am Beispiel des aktuell und temporär eingeführten 9-Euro-Ticket ist zu erkennbar, dass die Bundesregierung mittlerweile den hohen Lebenshaltungskosten in Deutschland etwas entgegensetzen möchte. Auch die damit verbundene zunehmende Schwierigkeit, sich öffentliche Verkehrsmittel leisten zu können, wird hiermit anerkannt. Doch ohne Amnestie kommt das 9-Euro-Ticket für viele Menschen zu spät: Sie gehen dafür ins Gefängnis, dass sie zu einem Zeitpunkt ohne Fahrschein gefahren sind, an dem diese günstige Ticketoption nicht bestand.

Das gesamte System richtet sich auch gegen rassifizierte Gruppen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit von der Polizei kontrolliert werden - wie zum Beispiel an sogenannten "kriminalitätsbelasteten Orten" oder durch die Stigmatisierung als "Clan-Kriminelle" - und deshalb mit Geldstrafen belegt werden. In unserer Gesellschaft und bedingt durch unser Wirtschaftssystem sind rassifizierte Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund außerdem unverhältnismäßig häufig von Armut bedroht oder betroffen. Die Ungerechtigkeiten verstärken sich.

Die überwältigende Mehrheit der Ersatzfreiheitsstrafen in Deutschland wird heute für sogenannte Bagatelldelikte verfügt, die deutlich unter der Höchstzahl (180) von für Geldstrafe empfohlenen Tagessätzen liegt. Für diese Delikte hielt das jeweils zuständige Gericht im Rahmen der Strafzuessung im Grunde ausdrücklich keine Haft, sondern eine Geldstrafe für angemessen. Wenn nun für Personen nachträglich und oftmals durch automatisierten schriftlichen Strafbefehl aufgrund ihrer schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse und damit einhergehenden Zahlungsunfähigkeit die Freiheitsstrafe vollstreckt wird, ergibt sich eine zusätzliche Bestrafung, die so von keinem Gericht verhängt wurde.

Wir fordern die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, denn dieses Instrument des deutschen Strafsystems:

  • bestraft Menschen für ihre Armut, wirkt desozialisierend, reißt Personen aus ihren Strukturen und verstärkt finanzielle und soziale Notlagen.

  • bringt Menschen in Haft für Delikte, deren grundlegende Entkriminalisierung aktuell auch politisch längst erörtert wird.

  • ist nachweislich nicht das vermeintliche Rückgrat des Systems Geldstrafen. Eine Abschaffung als Ultima Ratio würde dieses System keinesfalls bedrohen, wie sich am schwedischen Beispiel und der Covid-bedingten Aussetzung beispielsweise in Berlin belegen lässt.

Kein Staat sollte Menschen aufgrund ihrer Armut einsperren. Wir fordern als erste Schritte zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe einen anhaltenden Vollstreckungsstopp, einen Sammelgnadenerlass für alle Personen mit ausstehenden Geldstrafen, sowie die Entkriminalisierung sogenannter Armuts- und Bagatelldelikte.

Das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe besteht aus Gruppen und Einzelpersonen aus den Bereichen Soziale Arbeit, Strafrecht, Kriminalpolitik, Wissenschaft und Aktivist*innen.


Mitali Nagrecha

Mitali Nagrecha ist die Koordinatorin von Justice Collective.

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